Urbane Mischung – welche Bedarfe für Handwerk, Gewerbe und Kultur gibt es im Nordosten?

   

     

Mit der Veranstaltung am 11. Februar 2021 ging die Reihe „Nach dem Wettbewerb: Wie geht es weiter mit dem Münchner Nordosten?“ der  Münchner Volkshochschule, der Evangelischen Stadtakademie und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kooperation mit der Münchner Initiative für ein soziales Bodenrecht in die letzte Runde.

Ein lebendiger und lebenswerter Stadtteil für bis zu 30.000 Einwohner*innen braucht mehr als bezahlbare Wohnungen. Zur Debatte stand die Frage, welche Weichen  schon jetzt dafür gestellt werden müssen?

Mit über 150 Teilnehmer*innen war die von Ellen Diehl (Friedrich-Ebert-Stiftung) strukturierte und einfühlsam moderierte Online-Veranstaltung gut besucht.

Der erste Impuls von Stadtbaurätin Elisabeth Merk betonte die Bedeutung einer eigenen Identität für einen so großen neuen Stadtteil. Am Beginn der Planung sollte deshalb die Frage nach der „Begabung des Ortes“ stehen. Im Nordosten gehörten etwa Landwirtschaft, (Pferde-)Sport und vielfältige Freiräume bis hin zur offene Landschaft dazu. Für die Zukunft werde eine bessere Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten immer wichtiger. Flexibel zu buchende Coworking-Räume im Quartier könnten die Wohnungen entlasten und zu belebten Erdgeschossen beitragen. Mit Co-Kreation und Co-Produktion sollten gute Voraussetzungen für Vielfalt, Urbanität und eine neue Gründerkultur geschaffen werden. Das könne aber nicht von der Stadt geplant und verordnet werden, sondern erfordere über viele Jahre gemeinsamen Anstrengungen und einen intensiven Dialog zwischen den schon länger hier lebenden und den neu hinzukommenden Akteuren – möglichst mit guter Koordination und Moderation. In anderen neuen Quartieren wie dem Prinz-Eugen-Park haben sich dafür z.B. Konsortien der Bauträger und Quartiersgenossenschaften bewährt.

Im zweiten Impuls erläuterte Phillip Fleischmann (Stadt Wien, Seestadt Aspern) das Konzept und erste fertiggestellte Bauabschnitte der Seestadt Aspern am östlichen Rand von Wien auf einem ehemaligen Flugfeld, das die Stadt Wien vom Bund gekauft hatte. Der flexible Masterplan gehe von urbanen Bauformen, räumlich ablesbaren Quartieren sowie einer ausgewogenen Funktionsmischung aus und setze dauerhafte und temporäre („pop up“) kulturelle und soziale Einrichtungen strategisch ein. Eine gleich zu Beginn realisierte U-Bahnanbindung an die Innenstadt ermögliche einen autoarmen Stadtteil. Rund 20.000 Einwohner*innen und nicht viel weniger Arbeitsplätze solle es in etwa 10 Jahren hier geben. Für „lebendige Erdgeschosse“ und die Ansiedlung von Einzelhandel, Dienstleistungen, Gewerbe und Kultur sei der gemeinsame Betrieb aller EG-Räume im Stadtteilzentrum und in mehreren Quartierszentren die entscheidende Voraussetzung. Durch differenzierte Mieten und die Abdeckung von Anlaufverlusten würden Nahversorgung, soziale und kulturelle Infrastruktur sowie Gewerberäume für Gründer auch bei anfangs noch geringer Kundenfrequenz ermöglicht. Eine weitere entscheidende Voraussetzung für die Urbanität in einem neuen Stadtteil sei eine hohe Qualität der öffentlichen Räume.

Die nachfolgenden Kommentare beleuchteten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven:

Jürgen Enninger (Referent für Kultur und Sport der Stadt Augsburg) unterstrich die Bedeutung von Kunst und Kultur als Verständigungsebene in einer diversen Gesellschaft und als „Innovationstreiber“. Dafür müssten bezahlbare Räume und eine gute Sichtbarkeit im öffentlichen Raum ermöglicht werden. Dagmar Koblinger (Kulturreferat LH München, Stadtteilkultur) plädierte für eine Planung der kulturellen Infrastruktur gemeinsam mit den Bürger*innen und eine frühzeitige Abfrage der Bedarfe. Wichtig sei angesichts des langen Entwicklungszeitraums die Offenheit und Anpassbarkeit der Infrastruktur, z.B. durch Mehrfach- und Zwischennutzungen. Das Wiener Konzept der „lebendigen Erdgeschosse“ wurde schließlich von Andreas Götzendorfer (Referat für Arbeit und Wirtschaft LH München, Standortentwicklung) aufgegriffen: Dienstleistungen, Ladenhandwerk und kleinteiliges Gewerbe bildeten dafür ein wichtiges Potenzial. Eine städtebaulich ablesbare Zentrenstruktur in Zuordnung zum ÖPNV sei dafür die Voraussetzung.

Die lebhafte Diskussion mit dem Publikum wurde bei dieser Veranstaltung erstmals über Tweedback geführt, mit der Möglichkeit zur Priorisierung von Fragen durch das Publikum. Die angesprochenen Themen reichten von Badesee und Biergarten über Energieversorgung, Handwerk und Kultur bis zur Zahl der Arbeitsplätze. So wurde einerseits die sehr ausgewogene Mischung von Wohnen und Arbeiten in der Seestadt Aspern gelobt, andererseits auf den durch mehr neue Arbeitsplätze gesteigerten Wohnungsbedarf hingewiesen. Im Nordosten geht es allerdings nicht primär um eine Betriebsansiedlung von außen, sondern um die Deckung des bei Münchner Unternehmen vorhandenen Raumbedarfes. Allein durch Schulen, Kindertagesstätten, Nahversorgung und Gastronomie sind rund 2.500 Arbeitsplätze zu erwarten. Andreas Götzendorfer verwies auf das seit Jahrzehnten erfolgreiche Gewerbehofprogramm der Stadt als Chance für Handwerk und Kleingewerbe. Im Nordosten könnte durchaus ein weiterer Gewerbehof entstehen. Auf die Frage, ob die Stadt die Bebauung selbst realisieren oder Grundstücke an Bauträger vergeben werde, verwies die Stadtbaurätin auf das noch sehr frühe Planungsstadium. Grundsätzlich könne und wolle die Stadt aber nicht alles selbst realisieren, sondern wie auch in anderen neuen Quartieren mit verschiedenen Trägern zusammenarbeiten, wobei deren Gemeinwohlorientierung ein wichtiges Kriterium sei. Wie Elisabeth Merk abschließend betonte, setzt Urbanität in einem neuen Stadtteil eine flexible Strategie und bezahlbare Flächen voraus, die Spielräume für unterschiedliche gewerbliche, kulturelle und soziale Nutzungen eröffnen. Die Initiative „Kartoffelkombinat“ etwa sei ein gutes Beispiel für eine nachhaltige Lebensmittelversorgung in der Stadt. Über Handwerk und lokales Gewerbe bei der Planung eines neuen Stadtteils nachzudenken sei keine Romantik, sondern entspreche dem Zukunftstrend verantwortlichen und nahhaltigen Wirtschaftens.

Eine Aufzeichnung dieser Veranstaltung können Sie auf der Website der des BayernForums der Friedrich-Ebert-Stiftung ansehen.

Die Veranstaltungsreihe war ein Gemeinschaftsprojekt der Münchner Initiative für ein soziales Bodenrecht, des BayernForums der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Evangelischen Stadtakademie und der Münchner Volkshochschule/ Nord-Ost-Forum in Kooperation mit dem Ökologischen Bildungszentrum und NordOstKultur e.V.


Ab Herbst 2021 ist eine Fortsetzung der erfolgreichen Reihe geplant: virtuelle Exkursionen zu geplanten und realisierten großen neuen Stadtteilen in verschiedenen europäischen Städten. Ein Panel mit Bürger*innen und Expert*innen soll dabei unter Beteiligung des Publikums der Frage nachgehen, was München für städtebauliche und landschaftliche Qualität, Mobilitätskonzepte oder partizipative Planungsprozesse im Nordosten aus den präsentierten Beispielen lernen kann.


Nähere Informationen bei den Veranstaltern:
Winfried Eckardt, Münchner Volkshochschule – Telefon (0 89) 48006-6751 – E-Mail: stadtbereich.ost@mvhs.de
Jutta Höcht-Stöhr, Evangelische Stadtakademie – Telefon (089) 549027-0 E-Mail: hoecht-stoehr@evstadtakademie.de
Ellen Diehl, BayernForum der Friedrich-Ebert-Stiftung – Telefon (089) 51 555 243 E-Mail: ellen.diehl@fes.de
www.initiative-bodenrecht.de

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